Vielfach haben zu Kirchhoffs Zeit die Studenten sich während der Vorlesungen Notizen gemacht und diese später ausgearbeitet, jedenfalls solange es noch keine Lehrbücher der Theoretischen Physik gab und die Bücher über Experimentalphysik recht teuer waren. So hat beispielsweise Kirchhoff als Student beeindruckend sorgfältige Nachschriften der Vorlesungen „Theorie des Lichts“ und „Lehre von der Elastizität“ seines Königsberger Lehrers Franz Ernst Neumann angefertigt.1
Von Kirchhoffs Vorlesungen sind nur wenig Mit- oder Nachschriften erhalten geblieben. So ist es ein außerordentlicher Glücksfall, daß in der Handschriftenabteilung der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften umfangreiche Mit- und Nachschriften Kirchhoffscher Vorlesungen liegen, die von den ungarischen Studenten Loránd Eötvös und Agost Heller angefertigt wurden. Damit haben wir ungewöhnlich reichhaltiges Material über Kirchhoffs Lehrveranstaltungen in Heidelberg.2
Von ganz besonderem Interesse sind darunter die Texte zur Vorlesung über Experimentalphysik und zum Physikalischen Praktikum. Soweit aus den bibliographischen Datenbanken zu entnehmen ist, gibt es derartiges aus jener Zeit sonst nicht, mit Ausnahme der Vorlesungsnotizen Ludwig Boltzmanns, die vor einiger Zeit verdienstvoller Weise aus der privaten Kurzschrift Boltzmanns in Langschrift übertragen wurden.3
Sehr bemerkenswert ist auch Kirchhoffs Vorlesung über die gesamte Theoretische Physik, eine kompakte Einführung in die Theoretische Physik um 1870. Von Kirchhoffs einsemestrigen Vorlesungen über Teilgebiete der Theoretischen Physik waren neben den noch heute in Budapest liegenden Skripten lange Zeit mehrere Mitschriften überliefert, hauptsächlich aus der späteren Berliner Zeit, sie sind heute zumeist nicht mehr vorhanden.
Es gibt heute neben den Budapester Papieren zumindest noch eine weitere Dokumentationen der Kirchhoffschen Heidelberger Vorlesungen. In der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, liegt eine „Stenographische Kollegnachschrift ‚Theoretische Physik’ Heidelberg 1855/1856“ (Sign.: Hss-Abt./Lit.-Archiv Sign.: Ms. Germ. Quart. 2155) von Julius Lothar Meyer, sie enthält die Abschnitte Mechanik, Elektrizität, Optik und eine Fortsetzung „Notizen aus dem Colleg“, kann aber nur von Spezialisten für alte Stenographie gelesen werden. Der durch seine Arbeiten über das periodische System der Elemente sehr bekannte Chemiker Meyer war von 1854 bis 1856 in Heidelberg, hauptsächlich um bei Bunsen zu arbeiten.
1 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod.Ms.1998-26
2 Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod.Ms.1998-26
3 Ilse M. Fasol-Boltzmann, Walter Höflechner: Ludwig Boltzmann – Vorlesungen über Experimentalphysik in Graz, Akademische Druck. u. Verlagsanstalt Graz, 1898