Die Überblicksvorlesung zur Theoretischen Physik und die Experimentalphysikvorlesung ergänzten sich einander, denn in der Experimentalvorlesung verzichtete Kirchhoff weitgehend auf mathematische Ableitungen und Begründungen. So hätten beide Vorlesungen von den Studenten im selben Semester gehört werden können. Eötvös und Heller haben das aber nicht getan. Eötvös, der die Experimentalphysik in seinem ersten Heidelberger Semester hörte, besuchte die Theoretische Physik erst im nächsten Semester; von ihm sind dazu aber nur wenige Seiten überliefert (MS 5097/3). Heller dagegen begann sein Studium bei Kirchhoff mit der Theoretischen Physik und hörte die Experimentalphysik erst im zweiten Heidelberger Semester.
Die Überblicksvorlesung ist vollständig in dem von Heller hinterlassenen Skript MS 5027/8 enthalten. Es kann dies keine Mitschrift sein, denn der Text ist durchgehend vollständig ausformuliert und enthält viele, teils recht komplizierte Formeln, allerdings ist die Handschrift stellenweise sehr flüchtig. Für eine Nachschrift erscheint das Skript auch zu vollständig. Vielleicht handelt es sich – zumindest teilweise – um eine Abschrift des Kirchhoffschen Vorlesungsheftes. Das ist möglich, denn wie Heller berichtet, hatte Kirchhoff ihm gelegentlich manche dieser Hefte zur Benutzung überlassen. Zwar wird sich das nie feststellen lassen, aber dennoch ist dieses Skript so von ganz besonderem Interesse.
Kirchhoff erläuterte den Sinn der Überblicksvorlesung, wie Agost Heller das am 25.10.1869 notierte, folgendermaßen (MS 5027/8, Teil „Theoretische Physik“):
„Es kann unsere Aufgabe nicht sein in diesen Vorlesungen das ganze Gebiet der mathematischen, d.i. theoretischen Physik zu betrachten und wir müssen uns daher auf einige Kapitel derselben beschränken, nämlich:
Die Lehre von der Schwere
Die Lehre von der Elektrizität (statisch und dynamisch)
Elemente der mechanischen Wärmetheorie
Die wichtigsten Kapitel der Optik“
Im ersten Teil, der „Lehre von der Schwere“, behandelte Kirchhoff einfache mechanische Bewegungen, nämlich freien Fall, Wurf, physisches Pendel, Reversionspendel, Sekundenpendel, Keplersche Gesetze, Potential einer Kugelschale, Schwere im Innern der Erde. Das nahm fast neun Vorlesungsstunden in Anspruch (Seiten 1– 41).
Im zweiten Teil, der „Lehre von der Elektrizität“ (Seiten 41 – 85), erläuterte Kirchhoff eingangs die seinerzeitige Vorstellung von zwei elektrischen Fluida mit entgegengesetzten Eigenschaften, die als positive und negative Elektrizität bezeichnet wurden, und begann dann mit der Behandlung der Elektrostatik. Dazu führte er die Kraft zwischen den beiden Elektrizitäten und das Potential ein, um dann ausführlich die Verteilung der Elektrizität auf Leitern zu behandeln, bis hin zur Theorie des Kondensators. Es folgte die Behandlung der Kontaktelektrizität und die Theorie der galvanischen Kette. Den Unterabschnitt Elektrodynamik leitete Kirchhoff mit der Behandlung von Bewegungen der Elektrizität ein und besprach dann seine Kirchhoffschen Sätze zur Verzweigung von Strömen sowie die Wheatstonesche Brücke. Es folgten nichtlineare Leiter und der Stromübergang von Metall in Flüssigkeiten. Danach begann die „Lehre vom Elektromagnetismus“ (Seiten 85 – 129) mit den Induktionserscheinungen, den Kräften und den Wirkungen zwischen Strömen und Magneten und den Strömen untereinander und dem diesbezüglichen Weberschen Gesetz.
Im dritten Teil, der „Mechanischen Wärmetheorie“ (Seiten 129 – 160) ging Kirchhoff von der kinetischen Energie aus, kam zu Arbeit, Reibung und Wärme und damit zum ersten Hauptsatz der Wärmelehre. Danach folgte eine ausführliche Behandlung von Kreisprozessen, die in den zweiten Hauptsatz mündete. Dann behandelte Kirchhoff Anwendungen der beiden Hauptsätze, besonders auf gesättigte Dämpfe, elektrische Ströme, Thermoströme, Hydroketten und Daniellsche Ketten.
Mit der 36. Vorlesung begann schließlich der vierte Teil der Vorlesung, die „Optik“ (Seiten 160 - 235). Kirchhoff besprach zunächst die Ausbreitung des Lichtes im Äther und die verschiedenen Arten der Polarisation. Es folgten Reflexion und Brechung an ebenen Flächen, insbesondere an einem System von Platten, die totale Reflexion und die Fresnelschen Formeln, dann die Lichtbrechung in Kristallen und die Newtonschen farbigen Ringe. Letztes großes Thema waren danach die Beugung, insbesondere das Huygenssche Prinzip.
In den 60er Jahren hatte Kirchhoff wohl die Ausarbeitung der Vorlesung über Experimentalphysik im wesentlichen abgeschlossen, jedenfalls bot er ab Oktober 1864 zusätzlich zur Überblicksvorlesung „Theoretische Physik“ drei spezielle Vorlesungen über Teilgebiete der Theoretischen Physik an, jeweils eine Stunde im Wintersemester am Dienstag und im Sommersemester dienstags und freitags bis zum Sommer 1872 in fester Reihenfolge „Hydrodynamik“, „Theorie der Elasticität fester Körper“, „Theorie der Elektricität und des Magnetismus“.
Ab dem Winter 1872 änderte er das, aus der Vorlesung „Theoretische Physik“ wurde eine „Mechanik“; zu dieser Zeit schrieb er an seinem Buch über „Mechanik“, dem ersten Band der „Vorlesungen über Mathematische Physik“. Dazu kam eine „Theoretische Optik“, im Sommer 1873 „Mechanik flüssiger und elastischer fester Körper“ und im Winter 1873 „Theorie der Wärme und der Elektrizität“. Im Archiv der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften sind dazu überliefert:
Theorie der Elasticität fester Körper | (Eötvös MS 5096/13) | SS 1868 |
(Heller MS 5027/8) | WS 1869/70 | |
Theorie der Elektricität und des Magnetismus | (Eötvös MS 5097/4) | WS 1868/69 |
(Heller MS 5097/8) | SS 1870 |
Die beiden Scripte MS 5096/13 und MS 5097/4 von Eötvös sind sehr sauber ausgearbeitete Nachschriften oder vielleicht auch Abschriften der Kirchhoffschen Vorlesungshefte.
Kirchhoff nahm später die Vorlesung „Theorie der Elasticität fester Körper“ in den Mechanik-Band seines Lehrbuches auf, sie bildet dort die letzten vier Kapitel. Aus den übrigen Teilgebieten haben dann Hensel und Planck die weiteren drei Bände der Kirchhoffschen Vorlesungen geformt. Da Kirchhoff das Material laufend erweitert hatte, geht der Stoff dieser Bücher teilweise erheblich über den der Heidelberger Vorlesungen hinaus.