6. Die Vorlesungen über Experimentalphysik

Zu jener Zeit gab es nur wenig Physikstudenten, denn außer Schule und Universität gab es noch kein Berufsfeld für Physiker. So haben während der 21 Jahre Kirchhoffs in Heidelberg nur 11 Studenten Physik als Hauptfach in der Doktorprüfung gewählt. Am physikalischen Praktikum, das nur im Sommersemester angeboten wurde, nahmen etwa 10 bis 15 Studenten teil. Allerdings hatte Kirchhoffs Hörsaal, der ihm 1862 im Friedrichsbau eingerichtet wurde, 72 Plätze. Die Mehrzahl der Hörer waren Studenten der Chemie und der Mathematik, und auch anderer naturwissenschaftlicher Ausrichtungen wie Mineralogie oder Botanik. Das spürt man deutlich an dem Inhalt der Vorlesung über Experimentalphysik, in der Kirchhoff viel auf praktische Fragen und Anordnungen einging und auch die teils wohl geringen mathematischen Kenntnisse der Hörer berücksichtigte. Jedoch sparte er den aktuellen Stand der physikalischen Forschung nicht aus, sondern erwähnte Arbeiten und Ergebnisse aus den letzten Dezennien. Auch die Resultate seiner eigenen Forschungen erwähnte er, manche davon sehr ausführlich, so etwa seine Messungen des Verhältnisses von Querkontraktion zu Längendilatation von Stahlstäben aus dem Jahre 1859 (Exp-2, S. 168) oder seine Strahlungsgesetze über Emission und Absorption (Exp-1, S. 63-66).

Für die Zeit vom 1867 bis 1870 liegen uns also von Eötvös und Heller drei Texte zu Kirchhoffs Vorlesung über Experimentalphysik vor, allerdings haben alle drei gewisse Mängel.

In dem ersten Text, der sehr knappen Nachschrift vom Wintersemester 1867/68 (Exp-1), füllt eine Vorlesungsstunde jeweils nur etwa ein bis zwei Seiten, manchmal sind auch nur ein paar Stichworte notiert. Die Handschrift ist klar und deutlich und kann ohne weiteres gelesen werden. Dabei ist es vorteilhaft, daß die beiden Ungarn Eötvös und Heller lateinische Schrift verwendeten. Damals wurde in Deutschland eine Kurrentschrift benutzt, die heute viele nicht mehr lesen können.

Der zweite Text ist eine Mitschrift Eötvös` aus dem Wintersemester 1869/70 (Exp-2). Sie ist außerordentlich detailliert, aber sehr schwer zu lesen. Damals war Eötvös gerade aus Königsberg nach Heidelberg zurückgekehrt und bereitete sich langsam auf eine Promotion vor. Vermutlich im Hinblick auf die dann anstehende Prüfung bei Kirchhoff hörte er nochmals die Experimentalphysik. Die Mitschrift ist aber nicht vollständig, sie bricht wegen persönlicher Probleme im Dezember 1869 ab.

Der dritte Text ist eine Mitschrift von Heller aus dem Sommersemester 1870 (Exp-3). Sie ist recht knapp gehalten und streckenweise auch schwer lesbar. Sie bricht am 15. Juli mit dem Beginn des französisch-preußischen Krieges ab.

Korrelationen mit den Texten der gängigen Lehrbücher sind nicht zu erkennen; Kirchhoff zog sicher für seine Vorlesung mehrere Bücher zu Rate, hat aber auch aus seinen Literaturkenntnissen, aus eigener Erfahrung und aus neueren Veröffentlichungen geschöpft. Einteilungen, Struktur und die Wahl der Demonstrationen einer Physikvorlesung ergeben sich sowieso von selbst aus der Physik und sind heute nicht anders als damals; so manches von Kirchhoff vorgeführte Experiment wird noch heute in gleicher Weise gezeigt.

In den beiden von Eötvös mitgeschriebenen Vorlesungen kommt keine Optik vor, jedoch in der Mitschrift von Heller. Das erklärt sich durch einen Blick in die Vorlesungsverzeichnisse. In Heidelberg hatte sich 1855 der Mathematiker Friedrich Eisenlohr, Sohn des Physikers Wilhelm Eisenlohr, habilitiert und ab dann als Privatdozent Vorlesungen gehalten, und zwar regelmäßig im Sommersemester „Mechanik“, die damals immer von Mathematikern gelesen wurde, und im Wintersemester „Theoretische Optik“. Kirchhoff hat wohl deshalb, um Überschneidungen zu vermeiden, im Wintersemester in der Experimentalphysik die Optik weggelassen. Dadurch gewann er 15 Vorlesungsstunden, die den nachfolgenden Themen Wärmelehre, Magnetismus und elektrische Erscheinungen zugute kamen. Allerdings enthält seine Vorlesung „Theoretische Physik“, die er von 1955 bis 1971 jeweils im Wintersemester hielt, einen Abschnitt „Optik“, der immerhin mit 17 Vorlesungsstunden ein Drittel der Vorlesung umfaßt.

Trotz ihrer Mängel dokumentieren diese drei Scripte den Inhalt der Vorlesung und Kirchhoffs Präsentationsweise sehr gut. Aus dem ersten und dem letzten zusammen ergibt sich der komplette Stoffumfang, aus dem zweiten erkennt man im Detail die Vortragsweise Kirchhoffs.

Vergleichende Inhaltsübersicht der drei Vorlesungen

  Exp-1 Exp-2 Exp-3
  WS 1867/68 WS 1869/70 SS 1870
  MS 5096/9 MS 5096/15 MS 5027/8
  Eötvös Eötvös Heller
Was ist Physik? Vorl. 1 (1 Std.) S. 1 Vorl. 1 (1 Std.) S. 1 Vorl. 1 (1 Std.) S. 1-2
Mechanik-Statik Vorl. 2-6 (5 Std.) S. 1-4 Vorl. 1-6 (5 Std.) S. 1-31 Vorl. 1-6 (5 Std.) S. 3-6
Mechanik-Dynamik Vorl. 7-13 (7 Std.) S. 4-15 Vorl. 7-14 (8 Std.) S. 31-71 Vorl. 7-14 (7 Std.) S. 6-11
Hydrostatik Vorl. 14-24 (11 Std.) S. 15-30 Vorl. 15-24 (10 Std.) S. 71-116 Vorl. 15-22 (7 Std.) S. 12-16
Hydrodynamik Vorl. 25-31 (7 Std.) S. 30-38 Vorl. 25-31 (7 Std.) S. 116- Vorl. 23-32 (10 Std.) S. 17-18
Elastizität Vorl. 32-33 (2 Std.) S. 38-44 Vorl. 32-35 (4 Std.)   Vorl. 33-35 (3 Std.) S. 19-20
Akustik Vorl. 34-41 (8 Std.) S. 44-55 Vorl. 36-44 (8 Std.) S. 173- Vorl. 36-43 (8 Std.) S. 21-24
Optik jeweils im WS nicht behandelt jeweils im WS nicht behandelt Vorl. 44-56 (13 Std.) S. 25-27
Wärmelehre Vorl. 42-59 (18 Std.) S. 55-85 Vorl. 44-48   S. Vorl. 57 (7 Std.) S. 28-29
Magnetismus Vorl. 60-63 (4 Std.) S. 86-93 Script mit Vorl. 48 abgebrochen Script mit Vorl. 63 abgebrochen
Elektrische Erscheinungen Vorl. 64-86 (23 Std.) S. 94-115